Kuchen, Segen und Schatten

Wozu Feste gut sind. Wozu die Kirche dabei gebraucht wird. Und warum sich in die Vorfreude manchmal Angst mischt.

Das Fotoalbum

Wenn Familienbesuch kommt oder wir zur Familie auf Besuch gehen, wenn ein wenig Zeit ist miteinander und Muße, dann holen wir die Fotoalben aus dem Schrank, am liebsten die mit den Festen. Dann wird Familienbiografie nacherlebt und fortgeschrieben, dann machen wir einander bewusst, wer wir als Familie sind, wer dazugehört und was uns auszeichnet. Mit Familienfes­ten schreiben wir unsere Familienbiografie; mit dem Betrachten der Familienalben erinnern wir sie, bringen sie in einen roten Faden und vergewissern uns, wer wir sind. Die Familienfeste sind Etappen auf dem familienbiografischen Weg, Meilensteine, wie die Religionspädagogin Margarete Schindler sie nennt, einschneidende biografische Ereignisse, die zu einer Rückschau und einer Vorschau einladen, die durchaus mit hohem Krisenpotenzial behaftet sind und die für einen Übergang stehen, der bewältigt werden muss.

Nach wie vor werden wichtige Ereignisse der Familienbiografie mit der Kirche gefeiert: Taufe, Erstkommuni­on, Firmung, Hochzeit, Goldene Hochzeit. Kirche bietet für diese Anlässe etwas, was es sonst nicht gibt: religiöse Rituale, eine besondere Feierlichkeit, eine nicht machba­re Dimension. Sie bringt Gott ins Spiel, und Gott wird in diesen Übergangssituationen gebraucht. Denn mit dem Krisenpotenzial eines Lebensübergangs wächst auch die Bedürftigkeit: nach Sicherheit, nach Verankerung, nach Bezug zu etwas Größerem, Unverfügbarem. Eine vornehme Aufgabe der Institution Kirche, die biografischen Feiern religiös zu markieren, Sicherheit zu bieten, wo Unsicherheit vorherrscht, Deutung vorzuschlagen, wo Ratlosigkeit um sich greift, Sprache zu finden, wo man keine Sprache hat, Formen zur Verfügung zu stellen, die ein Ereignis fassen, beschreiben und würdigen.

Die Weihnachtskrippe

Manchmal wird geklagt, Sakramente und kirchliche Feste würden zu Familienfesten verkommen. Doch die Feiernden tun intuitiv das Richtige. Sie blicken aus ihrer Familienperspektive auf das Fest und holen das heraus, was das Fest für die Fortschreibung ihrer Familienbiografie beiträgt. Beim Familienfest Weihnachten geschieht dasselbe. Der Theologe Matthias Morgenroth hat dem „Weihnachts-Christentum“ (Matthias Morgen­roth: Weihnachts-Christentum. Moderner Religiosität auf der Spur, Gütersloh 2002) zu seinem Recht verholfen: Im Kirchenvolk sei Weihnachten das höchste Kirchenfest, weil es ein wichtiges Jahresfamilienfest sei. Viel wichtiger als die Krippe in der Kirche sei die Weihnachtskrippe zu Hause im eigenen Wohnzimmer. Da komme das Christkind an, da werde der große unfassbare Gott klein und greifbar hineingeboren. An der Krippe ankommen (genauso wie die Hirten und die Drei Könige) heißt dann: im eigenen Leben ankommen, einen Ort finden, Heimat finden, zu Hause sein. Die Krippe versammelt die Familie um ihren eigenen Mittelpunkt, sie wird zum Symbol für die Heimat in der Heimatlosigkeit, für den sicheren „Hafen“ im unsicheren Weltenmeer, für die Einheit inmitten der Diversität. Familienfeste wie Weihnachten stabilisieren eine Familie und geben ihr eine eigene Identität. Das religiöse Fest verheißt, dass wir diese Stabilisierung nicht nur in den eigenen Leistungen und Errungenschaften suchen müssen, sondern als Geschenk Gottes in Empfang nehmen dürfen. Das ist symbolisch umso wichtiger, je instabiler sich Familien fühlen, je mehr sie zum Beispiel nach einer Trennung erst wieder eine Neukonstellation suchen müssen.

Der Geburtstagskuchen

Neben Kirchenjahr und Jahreskreis der Natur entsteht im Laufe des Familienlebens ein ganz persönlicher Jahresfestkreis mit Geburtstagen, Hochzeitstag(en), festen Zeiten für Urlaub, Ausflüge und Besuche, Namenstagen, Todestagen. All diese Ereignisse unterbrechen in schö­ner, meist vorhersehbarer Regelmäßigkeit den Alltag. Familien können darauf warten und sich darauf freuen, dann wieder zurückschauen und davon zehren. Den All­tag zu unterbrechen, heißt: die Zeit anzuhalten, Bilanz zu ziehen, das Jetzt zu genießen und aus diesem Genuss Kraft für die Zukunft zu gewinnen. Den Alltag zu unterbrechen, heißt auch: Reflexionszeit einzuräumen, Zeit für die Selbstwahrnehmung und Selbstvergewisserung. Aber ein Fest ist keine Psychoanalyse; die Mittel sind andere, die Ergebnisse vielleicht gar nicht so verschie­den. Das Fest greift zum Mittel des Symbols. Jedes Fest ist eine Symbolhandlung, bestehend aus vielen kleinen Symbolhandlungen. Bei den religiösen Festen ist das offensichtlich, bei den säkularen sieht man es auf den zweiten Blick. Beim Geburtstag beispielsweise, neben Weihnachten das wichtigste Fest für Kinder, heißen die Symbolhandlungen Gratulation, Geschenke, besondere Rolle „Geburtstagskind“ (bis ins hohe Alter heißt das so), Gäste, Kerzen, Geburtstagskuchen, Geburtstagslied. Alle diese Handlungen haben einen höheren Sinn, sie kumulieren in einer Aussage: „So wie du bist, bist du liebenswert. Du sollst dich selber lieben und wirst von uns geliebt, gemocht.“ Meine neunjährige Tochter platzt aufgrund dieser Aussage vor Stolz, die manche wört­lich sagen, die aber auf jeden Fall im Raum steht. Wir Erwachsenen platzen nicht mehr, denn wir erschrecken auch aufgrund der jedes Jahr größeren Zahl; wir wis­sen auch um das Lassen, das jeder und vor allem der runde Geburtstag uns abverlangt, und wir kennen die Wunden, die das Leben hinterlässt. Aber dennoch gilt der Kernsatz für das „Geburtstagskind“, das sich trotz fortgeschrittenen Alters wie ein Kind davon beschenken lässt. Der Geburtstag hat wie alle Feste den Grundcharakter, dass das Positive überwiegt. Manche Menschen feiern ihren Geburtstag nicht, weil sie das Positive als Ausnahme sehen. Doch man darf auch auf die Feier und ihre Wirkung vertrauen. Eine Symbolhandlung ist eine „Tathandlung“, ein „Akt der Realisierung“, das heißt: Wer feiert, bekommt die positive Erfahrung gratis dazu, das Fest setzt sie als seine ureigene Wirkung. Erklären lässt sich das nicht, nur erfahren.

Der Segen

Gerade das religiöse Fest betont die positive Seite. Das kommt gerade auch im Segen zum Ausdruck. Der Segen ist ein Zukunftsimpuls, der Mut machen soll für die nächsten Schritte und schon das Jetzt gesegnet weiß. Zur religiösen Festerfahrung gehört im Bild gesprochen: „Da ist eine Tür. Gott öffnet sie.“ Übersetzt: „Es ist gut, wie es ist, und es wird gut weitergehen. Gott eröffnet die Zukunft, du kannst den ersten Schritt gehen“. Alle kirchlichen Feste enden mit dem Segen am Schluss eines Gottesdienstes oder sind selber Segensfeste wie eine Hauseinweihung, eine Segensfeier zum Schulanfang oder zu Valentin. Auch private Feste, die Familien „sä­kular“ feiern wie den Geburtstag oder den Hochzeitstag, können sie mit einem Segen verbinden. Meine Freundin schreibt allen, denen sie zum Geburtstag gratuliert, einen Segen, der 18-jährigen Jugendlichen kann ich zum Führerschein einen Segen schenken, das Ehepaar kann sich am Hochzeitstag gegenseitig segnen. Der Volksmund sagt: Gott gibt seinen Segen dazu. Gott sagt ja zur Ver­gangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nicht zu allem ja und amen, aber grundsätzlich ja, prinzipiell würdigend und grundsätzlich ermutigend.

Die Scheu

Es gibt auch eine Scheu vor dem Fest. Ein Fest ist ein dichter Moment; da fließen Gefühle, da ist man oft ganz nah am eigenen Leben und aneinander dran. Das macht auch Angst. Bei einem Familienfest wird oft eine Person gefeiert, und das löst ambivalente Gefühle aus: Ich möchte mich schon feiern, aber vielleicht ist es auch peinlich. Vielleicht kommt niemand, vielleicht wollen die anderen mich gar nicht feiern … In manchen Familien- und Freundeskreisen hat sich ein hoher Standard etabliert; das Fest ist aufwendig und teuer, und nicht alle können oder wollen diesen Standard bieten. Auch die religiöse Note kann Scham auslösen. Fühlen sich die anderen genötigt, wenn ich einen Segen spreche oder wir mit einem Ritual beginnen? Manche scheuen vor den eigenen Erwartungen, die unbewusst und ungewollt hoch sind und enttäuscht werden könnten. Auch das Weihnachtsfest steht unter diesem hohen Erwartungsstern bei gleichzeitiger Angst, es könnte wieder zum Streit kommen, die Stimmung kip­pen, Großvater aus der Rolle fallen … Ein Fest lebt davon, dass es nicht einfach gemacht werden kann; es hat eine Eigendynamik. Das ist einerseits schön und andererseits eben auch beängstigend. Feiernde müssen ein Feierrisiko eingehen, nicht nur mit Blick auf das Wetter.

Da hilft nur das Vertrauen, dass die Mehrzahl der Fami­lienfeste gelingt und dass sie zumindest in der Erinne­rung bedeutsam geworden sind. Mit diesem Vertrauen und einer Portion Realitätssinn, dass nicht alles gelingen muss und es trotzdem gelungen ist, kann die Familie das nächste Fest wagen.

Der Schatten

Das erste Weihnachten ohne ihn, der erste Geburtstag ohne sie – über manchen Familienfesten liegt der Schat­ten des Todes oder einer Trennung. Einerseits sind sie ein schöner Anlass, sich der Verstorbenen der Familie zu erinnern, genau dies zu formulieren: „Letztes Jahr war er noch dabei.“ Und indem dies gedacht oder auch gesagt wird, ist er oder sie auf geheimnisvolle Weise noch da, anders da, jedenfalls nicht weg. Andererseits gibt diese Erfahrung Familienfesten auch einen traurigen Zug. Denn genau da fällt auf, dass es eine Lücke gibt. Jemand ist gestorben, zu krank, um zu kommen. Oder: Jemand kommt nicht mehr, weil er oder sie mit der Familie ge­brochen hat oder die Familie mit ihm oder der Kontakt einfach so abgebrochen ist. Familienfeste müssen mit diesem Schatten leben. Umgekehrt geben sie Anlass zu danken. Dass an Weihnachten alle noch da sind, kann ein Familienfest besonders intensiv erleben lassen und mit Dankbarkeit erfüllen. Dass man die Goldene Hochzeit noch feiern kann, dass der 80. Geburtstag noch möglich ist. Gerade der drohende Schatten kann das Familienfest zu einer Kostbarkeit werden lassen, von der die Beteiligten lange zehren.

Christiane Bundschuh-Schramm